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Durch den Herbstnebel schauen Sie mit Sonnenbrillen - fm4 ORF dot


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    Das coolste Duo des Rock’n’Roll ist zurück. Auf dem neuen Album „God Games“ bekommen es die Fans mit atheistischen Spirituals und gottlosen Gospels zu tun. Gitarrist Jamie Hince im Interview über Rock ohne Klampfe, die Anziehungskraft des Hässlichen und Religion ohne Gott.

    Von Christian Lehner

    Die Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Jamie Hince wirkt ein bisschen wie der Neffe von Iggy Pop. Für den hat er übrigens vor Kurzem Gitarre gespielt. Gemeinsam mit Andrew Watt. Der wiederum hat das neue Album der Rolling Stones produziert. Das passt gut, denn Jamie Hince wirkt auch ein bisschen wie der Adoptivsohn von Keith Richards. Gemeinsam ist ihnen die Liebe zum vorelektrischen Blues und die längst aufgegebene Liebe zu Substanzen, die man sich besser nicht in Venen spritzt oder durch Nasenlöcher zieht.

    Also sitzt Jamie Hince an dem Tag, an dem der erste Vorbote des neuen Albums der Stones in Form des Songs „Angry“ erscheint, in einem schicken Hotel in Berlin-Mitte wie ein Letzter des Rock’n’Roll. Coole Schale, Bling-Ketten, und eine Stimme wie aus dem Keller. Die obligatorischen The-Kills-Sonnenbrillen mit Kunststoffrahmen liegen auf dem Tisch.

    Jamie Hince humpelt, die Greifhand ist nach einem Autounfall vernarbt und eingeschränkt. Die braunen Augen haben viel Licht, aber auch viel Schatten gesehen. Die Haare verlieren sich nach oben und sind nachbehandelt. Aus Leder ist die Jacke, aus Leder scheint die Haut.

    Cover: Neues Album "God Games" von The Kills

    Domino Records

    „God Games“ ist bei Domino Records erschienen. Hier geht es zum sehr hörenswerten Interview-Podcast mit Jamie Hince.

    Jamie Hince ist aber vor allem eines: irrsinnig interessiert und begeisterungsfähig. Erwartet man bei einem Interview mit einem etwas in die Jahre gekommenen Rockstar routinierte Abgeklärtheit und Arroganz, so ist Jamie Hince mit einem kindlichen Enthusiasmus gesegnet, der sich rasch auf alle anderen Anwesenden überträgt. Wenn der 53-Jährige über Musik und Kunst im Allgemeinen spricht, schießt das Blut in seine Wangen und man meint, in die Augen eines Teenagers zu blicken, der gerade das Ticket für sein erstes Konzert gelöst hat.

    The Kills waren Anfang/Mitte der Nullerjahre die coolen Cats des Rock’n’Roll-Revivals. Er aus England, sie aus den USA, war es vor allem Alison Mosshart, die das Projekt vorantrieb. Während The Strokes und The White Stripes bald auf den großen Bühnen auftraten, bewegten sich The Kills stets im Zwischenreich von Club, Kunst und Fashion. Der Sound war ungehobelt, sexy und minimal. Alison Mosshart am Mikrofon und Jamie Hince an der Gitarre wurden zum leidenschaftlichsten Paar des Rock’n’Roll, das allerdings Bett und Tisch nicht miteinander teilt.

    The Kills spielen in intimen Clubs und als Anheizer für Blockbuster-Bands wie Guns’n’Roses oder Metallica. Jamie Hince hasst es bis heute, auf seine Beziehung und die mittlerweile geschiedene Ehe mit Supermodel Kate Moss angesprochen zu werden. Alison Mosshart singt nebenbei gemeinsam mit Jack White bei The Dead Weather, malt Bilder und brettert in alten Muscle Cars über die Highways der USA.

    Neues Album "God Games" von The Kills - Jamie Hince

    Christian Lehner

    Jamie Hince, Berlin September 2023

    „God Games“ ist das sechste Studioalbum von The Kills. Die Grundzutaten sind intakt, wurden aber neu sortiert. Hince und Mosshart komponierten das Gros der Songs NICHT auf der Gitarre, sondern auf billigen Synthesizern, Drum-Computern und einer Trompete. Wie für ihr Debütalbum „Keep on the Mean Side“ (2003) engagierten sie den Produzenten Paul Epworth (Adele, Paul McCartney), der für die Aufnahmen in London eine ehemalige Kirche als Studio buchte. Hip-Hop diente als Vorbild im Umgang mit Sounds und als Grundgerüst für viele Songs. Das Ergebnis klingt gleichermaßen fresh und konstant.

    Es war die Fashion-Industry, die uns gerettet hat, nicht die Musikindustrie.

    The Kills, die Jamie Hince als eine Band ohne Ablaufdatum und Pensionsansprüche bezeichnet, haben in Cowboyboots und Sneakers ihren nächsten Schritt getan. So lässt es sich gut mit Sonnenbrillen durch den Herbstnebel grooven.

    Jamie Hince über den Albumtitel „God Games“
    „Ich bin Atheist, ein gottloser Mensch. Dennoch taucht das Thema Glaube und Religion immer wieder in unserer Musik auf. Ich habe mich gefragt, warum das so ist. Ich denke, dass es ein geeignetes Konzept ist, um andere Bereiche des Lebens zu ergründen. Die Idee war dann: Lass uns doch gottlose Gospels und atheistische Spirituals singen für Menschen, die - so wie ich - die Euphorie des Glaubens schätzen, die aber nicht an Gott selbst glauben.“

    Jamie Hince über die Prägung durch Religion
    „Da ist dieses tiefsitzende Gefühl von höherer Macht. Es überkommt einen in verzweifelten Momenten. Dann reckt man die Faust gegen den Himmel und schreit: ‚Why are you fucking with me!?!‘ Das kennt wohl jeder. Ich hatte das mehrmals während der Pandemie.“

    Jamie Hince über den Albumtitel „God Games“ II
    „Als God Games bezeichnet man ein bestimmtes Genre von Computerspielen. Du baust Zivilisationen auf, kreierst Charaktere und bestimmst über sie. ‚The Sims‘ ist ein bekannter Titel. Ich fand das interessant, umgelegt auf die Musik. Ich erschaffe einen Gott, der gar nicht existiert.“

    Jamie Hince über das Schreiben der Songs für „God Games“
    „Ich fand es einfach nur noch langweilig, auf der Gitarre zu schreiben. Immer dasselbe Gefühl in den Handmuskeln, dieselben Akkorde, die sich automatisch formten. Wie soll man sich weiterentwickeln, wenn man mit einem Tool arbeitet, das man in- und auswendig kennt? Also begannen wir, auf allen möglichen Instrumenten zu schreiben: Drum-Computer, Bass-Synthesizer, Trompete! Und diese Songs klangen viel aufregender.“

    Jamie Hince über das Fehlen von Gitarren
    „Das war so befreiend, Mann! Und plötzlich wurde es zu einem Fluch. Ich hörte die Bänder durch: keine Gitarre! Ich war dabei, mich selbst arbeitslos zu machen. Was sollte ich bloß auf der Bühne tun? Also fügten wir als letzten Teil der Produktion noch Gitarren hinzu.“

    Neues Album "God Games" von The Kills

    Myles Hendrik

    The Kills 2023

    Jamie Hince über die musikalische Verbindung mit Alison Mosshart
    „Als wir beschlossen, eine Band zu gründen, machten wir uns auf die Suche nach einem Drummer. Oh, und wir brauchen auch noch jemanden am Keyboard und am Bass! Wir setzten die Band unserer Träume zusammen, doch wir fanden niemanden, der oder die unsere Vision und unseren Willen teilte. Alison und ich spielten manchmal 15 Stunden pro Tag zusammen. Und das war’s dann, wir schlossen einen Pakt.“

    Jamie Hince über den minimalistischen Sound von The Kills
    „Ich mochte schon immer Raum in der Musik, Einfachheit, Minimalismus. Das hat auch mit Attitude zu tun. Mir waren jene Blues-Spieler lieber, die einen bestimmten Vibe oder Punch hatten. Typen wie Robert Johnston oder Charley Patton. An deren Musik war kein Gramm Fett. Virtuosen hingegen sind nicht so mein Ding. Mit Schichten von Sound und komplexen Arrangements kannst du mich auch jagen!“

    Ich fand es einfach nur noch langweilig, auf der Gitarre zu schreiben.

    Jamie Hince über den Stellenwert der Fashion-Industry für The Kills
    „Es war die Fashion-Industry, die uns gerettet hat, nicht die Musikindustrie. Dort stießen wir auf taube Ohren und verschlossene Türen. Dann kamen beim zweiten Album (‚No Wow‘, Anm.) plötzlich die ganzen Portraits in den Kultur- und Fashion-Zeitschriften. Ich bin stolz darauf! Mode und Stil sind für mich so wichtig wie Musik.“

    Jamie Hince über die anhaltende New-York-Liebe von The Kills (vgl. den Song „New York“ auf dem neuen Album)
    „New York war immer ein guter Ort für uns. Wenn du in dieser Stadt aufschlägst, möchtest du sofort etwas Kreatives machen – einen Song oder ein Buch schreiben, ein Kunstwerk schaffen. Dabei lässt sich das gar nicht richtig beschreiben. Diese Energie ist einfach da. Als wir das erste Mal in die Stadt kamen, hatte ich ein kleines Notizbuch dabei. Ich saß in den Diners und Bars und schrieb und schrieb und schrieb.“

    Jamie Hince über die anhaltende LA-Liebe von The Kills (vgl. den Song „LA Hex“ auf dem neuen Album)
    „Los Angeles ist etwas komplizierter. Wenn Instagram eine Stadt wäre, dann wäre es LA. Andererseits ist LA wie ein Abflussrohr, das den ganzen Dreck aufsaugt. Es kann so hässlich sein. Abgründe ziehen mich aber magisch an. Wenn man kreativ sein möchte, sollte man sich mit dem Hässlichen auseinandersetzen. Ich mag das Picasso-Zitat: ‚Du musst dem Schönen immer einen Schritt voraus sein.‘ Was heute für das Hässliche steht, ist oft einfach nur noch nicht etabliert. Ich liebe LA!“

    Jamie Hince über das Plattencover mit dem Stierkampf
    „Ich lebe seit 23 Jahren vegan, klar bin ich gegen Stierkämpfe. Sie sind brutal und grausam. Aber so, wie ich mich für das Hässliche interessiere, interessiere ich mich für Dinge, die ich nicht mag. Warum gibt es das? Warum finden Menschen das attraktiv? Als ich nach LA umgezogen bin, hing dieses Gemälde, das jetzt das Cover ist, in meinem neuen Haus über dem Kamin. Der Vorbesitzer hatte es einfach zurückgelassen. Während der Pandemie hatte ich viel Zeit und studierte das Bild. Es repräsentiert die menschliche Grausamkeit unter dem Deckmantel von Kultur und Tradition. Und es ist ein wirklich schlechtes Gemälde. Der Maler kämpfte sichtbar mit den Schatten und der Pinselführung. Das Cover repräsentiert also auch den Kampf des Künstlers mit dem Werk. Es ist cool, wenn aus einer Idee hundert Ideen werden.“

    Wenn man kreativ sein möchte, sollte man sich mit dem Hässlichen auseinandersetzen.

    Jamie Hince über die Auswirkungen der Pandemie auf The Kills
    „Die Pandemie kam zum ungünstigsten Zeitpunkt. Wir waren nach dem letzten Album ‚Ash & Ice‘ jahrelang auf Tour und gerade, als wir im November 2019 wieder für neue Songs zusammenkommen wollten, hat das Virus einen Riegel vorgeschoben. Es hat uns drei Jahre gekostet. Ehrlich, ich leide noch immer darunter, auch finanziell. Jetzt sind wir zurück und alles ist fünfmal so teuer wie vorher. Touren ist ein verdammtes Risiko geworden. Ich hasse das, weil wir The Kills für immer weitermachen wollen.“

    Jamie Hince über den Song „LA Hex“
    „Ich stand an einer Straßenecke in LA. Es war zwei Uhr morgens. Ich wartete auf ein Taxi. Es sausten all diese Autos an mir vorbei. Ein Auto pumpte Hip-Hop, ein anderes das Trompetengejaule einer Mariachi-Band, ein drittes Rock’n’Roll. Ich stehe auf solche Kakophonien, also schrieb ich einen Song und dachte an all die verschiedenen Menschen hinter den Windschutzscheiben, an ihre Leben, Ziele und Biografien. Und an ihre Träume und Hoffnungen, von denen viele an den harten Realitäten von Los Angeles zerschellen werden. Und dann kam mir diese Textzeile, die auch für unsere Band gilt: ‚I still got my ways‘, wir machen weiter!“

    Publiziert am 27.10.2023

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    Author: Darlene Grant

    Last Updated: 1703337961

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